Das Studium der Sprachgeschichte verfolgt zwei Ziele:
- das praktische Ziel: gründliches Beherrschen der Sprache, Entwicklung des Sprachgefühls, tiefes Verstehen der Herausbildung der deutschen gegenwärtigen Sprache;
- das theoretische Ziel: die Erweiterung des allgemeinen linguistischen Gesichtskreises, das Unterscheiden der entwickelnden Formen der Sprache von den unentwickelnden, veralteten.
In der deutschen Sprache gibt es viele spezifische Merkmale, die nur historisch zu erklären sind. Dazu gehören z.B. solche phonetische Gesetze wie Umlaut, die Brechung, solche grammatischen Gesetze wie die Pluralbildung der Substantive, schwache und starke Konjugation der Verben, die Wortfolge im Satz u.a.
Eine richtige Erklärung vieler Erscheinungen und Besonderheiten der Sprache liefert nur eingehendes Studium ihrer historischen Gesetze.
Gegenstand der deutschen Sprachgeschichte ist die Entstehung und Entwicklung der deutschen Gegenwartssprache, ihrer Phonetik, ihrer Grammatik und ihres Wortbestandes.
Die Sprache ist eine gesellschaftliche Erscheinung. Jede Erscheinung des gesellschaftlichen Lebens muss historisch betrachtet werden, das heißt, man soll untersuchen, wie diese Erscheinung entstanden ist und welche Entwicklungsstufen sie durchgemacht hat, nur dann wird sie uns in ihrem heutigen Zustand klar und verständlich.
Die Sprachgeschichte ist aufs engste mit anderen Fächern verbunden.
In erster Linie betrifft das die Geschichte des Volkes, dessen Sprache wir studieren. Die Sprache entwickelt sich mit der Gesellschaft und stirbt mit ihr ab, deshalb können eine Sprache und ihre Entwicklungsgesetze nur dann verstanden werden, wenn sie unzertrennbar, unzertrennlich mit der Geschichte des Volkes betrachtet werden. Der Prozess der Bereicherung des Wortschatzes durch die Entlehnungen, Neubildungen usw. ist sehr eng mit der Geschichte des Volkes, der Entwicklung des wirtschaftlichen, kulturellen und gesellschaftlichen Lebens verbunden,
z.B.: Tinte, Mauer, Wein sind lateinische Entlehnungen, aber sie sehen
jetzt als echte deutsche Wörter aus.
lateinisch deutsch
scola - Schule
murus - Mauer
Das Studium der fränkischen Mundart half den Gelehrten einige Unklarheiten in der Geschichte der fränkischen Stämme festzustellen.
In zweiter Linie betrifft das die Geographie des Landes, in dem es lebt.
Kenntnisse in der Geographie spielen beim Erlernen der Besonderheiten der Dialekte eine groβe Rolle.
Drittens betrifft das die Literatur des entsprechenden Landes, weil die Sprache, besonders in ihren uralten Perioden, an den schriftlichen Denkmälern studiert wird.
Die Methode der Sprachgeschichte ist die historisch-vergleichende Methode. Das Wesen dieses sprachwissenschaftlichen Forschungsverfahrens besteht im Vergleich verschiedener Entwicklungsstufen einer Sprache, um die Gesetzmäßigkeiten ihrer Entwicklung aufzudecken. Diese Methode bestimmt auch die Verwandtschaft verschiedener Sprachen. Beim Studium der Geschichte der deutschen Sprache vergleichen wir die Gegenwartssprache, ihre Formen mit den Formen, die von der deutschen Sprache der älteren Perioden erhalten geblieben sind. Außerdem vergleichen wir die deutsche Sprache mit verwandten germanischen Sprachen (mit toten und lebendigen Sprachen) und mit den indoeuropäischen Sprachen.
Die deutsche Sprache gehört zu der germanischen Sprachgruppe. Dazu gehören auch Englisch, Holländisch, Dänisch, Schwedisch, Norwegisch, Isländisch und andere. Alle diese Sprachen sind miteinander verwandt und haben gemeinsame Züge in Grammatik und Lexik. Die germanischen Sprachen sind aber ein Teil einer größeren Sprachfamilie, die man als indo-europäischen Sprachstamm bezeichnet. Außer der germanischen.
Sprachgruppe gehören zum indoeuropäischen Sprachstamm folgende große Sprachgruppen:
- die indische Sprachgruppe (das Hindi)
- die slawische Sprachgruppe (Russisch, Polnisch u.a.)
- die romanische Sprachgruppe (Französisch, Rumänisch, Lateinisch, Spanisch, Portugiesisch).
Alle diese Sprachen bildeten früher eine einheitliche indoeuropäische Grundsprache. Folgendes Beispiel zeugt von der Verwandtschaft dieser Sprachen:
Mutter sein
Hindi: matar asti
Griechisch: meter esti
Lateinisch: mater est
Englisch: mather is
Neuhochdeutsch: Mutter ist
Russisch: mat jest
Persisch: madar ast
Die Siedlungsgebiete der alten Germanen erstreckten sich um 500 vor unserer Zeitrechnung von Skandinavien bis zu den Mitteldeutschen Gebirgen. Nach 500 v.u.Z. erweiterten die Germanen ihre Siedlungsgebiete nach Westen und Süden und um diese Zeit veränderte sich die Sprache der Germanen sehr und unterschied sich nun stark von der indoeuropäischen Grundsprache (die erste Lautverschiebung). Alle diese Veränderungen führten dazu, dass sich das Germanische von der indoeuropäischen Ursprache trennte und selbständig wurde. Von den Sprachwissenschaftlern wird diese Sprache als Urgermanisch bezeichnet. Man muss allerdings nicht denken, dass Urgermanisch eine einheitliche Sprache war. Es bestand aus mehreren Dialekten, die in verschiedenen Teilen des germanischen Siedlungsgebiets gesprochen wurden und sich voneinander mehr oder weniger unterschieden.
Die erste Kunde von den Germanen geben uns die Werke des bekannten römischen Staatsmannes und Feldherrn Julius Cäsar (100-44 v.u.Z.), des römischen Geschichtsschreibers Cornelius Tacitus (55-117) und anderer Historiker und Geographen des Altertums.